Page 144 - Vinkler, Jonatan, in Jernej Weiss. ur. 2014. Musica et Artes: ob osemdesetletnici Primoža Kureta. Koper: Založba Univerze na Primorskem.
P. 144
musica et artes

gehe, also viel übersichtlicher sei.18 Ernst Haeckels biogenetisches Grundge-
setzt von der Entsprechung von Ontogenese und Phylogenese bewähre sich
auch in der Musik als erhaltende Vererbung, wie an jedem rationellen Musi-
kunterricht abzulesen sei.

So zeigt es sich, dass die Gesetze, die die organische Welt beherrschen, auch für die
Welt der Kunst Geltung haben: die Erblichkeit, die Variabilität, die Überproduk-
tion, die zum Kampf ums Dasein und dadurch zur Divergenz der Charaktere und
zum Erlöschen der minder verbesserten Formen führt. Empfindsamen Seelen mag
es ein schrecklicher Gedanke sein, dass auch in dem heitern Reich der Kunst nur
Kampf, Tod und Zerstörung die herrschenden Mächte sein sollen. Aber aus die-
sem Widerstreit der Kräfte geht stets das Bessere und Vollkommnere als Sieger her-
vor; und es ist ein grossartiger Gedanke, dass alles, was auf der Welt lebt, einem und
demselben Gesetze folgt, dass unter der Wirkung dieses Gesetzes sich auf natürliche
Weise aus einfachen und unscheinbaren Anfängen alles das Herrliche und Grosse
in immer steigender Fülle und Mannigfaltigkeit entwickelt hat, und dass auch in
Zukunft nach diesem Gesetze sich immer Schöneres, Besseres und Vollkommneres
entwickeln wird.19

Die Unmittelbarkeit, mit der Koller evolutionäre Denkmuster auf die
Musikgeschichte anwendet, erscheint zunächst als sehr schlicht und als un-
zulässige Schematisierung der Musikgeschichte. Doch prüft man die einzel-
nen Gedankengänge einmal unvoreingenommen, so wird sehr deutlich, wie
viele gängige Auffassungen Koller hier formuliert und evolutionistisch be-
gründet, die wie selbstverständlich in unser Bild von und unseren Umgang
mit der Musikgeschichte Eingang gefunden haben. Vor der Folie einer schein-
bar wissenschaftlich begründeten Evolutionstheorie ist die unerschütterliche
Sicherheit zu verstehen, mit der das Fortschrittsprinzip musikalisches Den-
ken beherrschte und die deutsche Musik mit dem Anspruch auf Universali-
tät, Hegemonie und Weltherrschaft ausstattete, ohne dass dies vehementen
Widerspruch oder Kritik hervorgerufen hätte. Sie verschuldet anscheinend
auch den „Eigensinn“ der musikalischen Avantgarde im 20. Jahrhundert über
die Darmstädter Schule hinaus, die aufgrund ihrer intellektuellen Selbst-
vergewisserung auch soziales Verhängnis nicht scheut.20 Zweifel daran sind
1976 sogar von Carl Dahlhaus geäußert worden: „Von Fortschritt redet nie-

18 Op. cit., 38.
19 Oswald Koller, „Die Musik im Lichte der Darwinschen Theorie,“ in Jahrbuch der Musikbibliothek

Peters für 1900, 7 (1901): 35-50, hier 49.
20 Martin Thrun, Eigensinn und soziales Verhängnis. Erfahrungen und Kultur „anderer Musik“ im 20. Jahr-

hundert (Leipzig: Schröder, 2009).

142
   139   140   141   142   143   144   145   146   147   148   149