Page 145 - Vinkler, Jonatan, in Jernej Weiss. ur. 2014. Musica et Artes: ob osemdesetletnici Primoža Kureta. Koper: Založba Univerze na Primorskem.
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mand mehr. Die emphatische Vokabel, in Adornos‚ Philosophie der neuen Mu-
sik‘ noch mit einer Unbefangenheit gebraucht, die an das 19. Jahrhundert erin-
nert, ist aus dem Bewußtsein der später Geborenen wie ausgelöscht“.21 Trotzdem
hat Dahlhaus 1990 an einem Sammelband zur „Verteidigung des Fortschritts“
mitgearbeitet,22 was wohl nur durch angestrengte Dialektik zu vermitteln ist.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts tauchen vermehrt fortschrittskritische
und pessimistische Stimmen auf. Sie verbinden sich mit den Namen eher als
konservativ eingeschätzter Komponisten wie Felix Draeseke, Max Reger und
Richard Strauss. Heinz Tiessen befürchtet 1913 einen „Rückschritt auf niedere
Gestaltungsstufen“.23 Mit dem Ersten Weltkrieg und der schmachvollen Nie-
derlage wird einerseits die Kultur, vor allem die ‚große deutsche Musik‘ als
Rettung vor dem völligen Untergang apostrophiert, andererseits erhält die
Kulturkritik mächtigen Auftrieb. Sogar der Schönberg-Schüler Egon Wel-
lesz meldet 1919 Zweifel an:

Im Sinne einer Entwicklungslehre, die im späteren Werke immer einen höheren
Grad von Vollkommenheit anzunehmen gewohnt ist, die gedankenlos Neues auf
das Alte türmte, ohne die Fundamente zu prüfen, ist das, was wir jetzt schaffen,
kein Fortschritt, sondern beklagenswerte Barbarei, da unendlich vieles, an dem Ge-
wöhnung haftet, zerstört, vergessen werden muß, um den neuen Ideen Platz zu ma-
chen.24
Selbst in den fortschrittskritischen Stimmen blieb evolutionäres Den-

ken virulent. In Deutschland besaß es ein einflussreiches Zentrum. Spott
hat der teutonische Ernst vor allem in Frankreich provoziert, aber er blieb
fast wirkungslos. Bis heute ist unsere Musikgeschichteschreibung von zahl-
reichen, durch evolutionäres Fortschrittsdenken bestimmte Interpretationen
geprägt. Ihre Provenienz und ihre Partizipation an dem im 20. Jahrhundert
grassierenden Weltkrieg der Nationalkulturen wird erschreckend deutlich an
einer unter dem Namen von Wilhelm Tappert veröffentlichten, scheinbar
beiläufigen Bemerkung in der Ausnahmesituation des Oktobers 1914. Unter
dem Titel „Feinde ringsum!“ wird ein angeblicher „Krieg gegen die deutsche

21 Carl Dahlhaus, Vom Mißbrauch der Wissenschaft [1976], zitiert nach Thrun, op. cit., 650.
22 Carl Dahlhaus, „Brahms und die Idee der Kammermusik,“ in Verteidigung des musikalischen Fort-

schritts. Brahms und Schönberg, hrsg. Albrecht Dümling (Hamburg: Argument, 1990), 57-68.
Freundlicher Hinweis von Martin Thrun.
23 Heinz Tiessen, „Fortschritt und schöpferische Funktion,“ Allgemeine Musikzeitung 40 (1913): 776,
zitiert nach Thrun, op. cit., 624.
24 Egon Wellesz, „Gedanken über die neue Musik,“ Die neue Rundschau 30, 1 (1919): 506, zitiert nach
Thrun, op. cit., 625.

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