Page 146 - Vinkler, Jonatan, in Jernej Weiss. ur. 2014. Musica et Artes: ob osemdesetletnici Primoža Kureta. Koper: Založba Univerze na Primorskem.
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musica et artes
Musikwissenschaft“ zum Anlass genommen, alles Ausländische zu verdam-
men. Mit deutlich sozialdarwinistischer Begründung wird eine Konzentra-
tion allein auf die deutsche Musik gefordert und mit einer Apotheose über-
wölbt:
Wenn nun die Deutsche Gesellschaft für Musikforschung uns die langverschütte-
ten Quellen zu der Kunst der Gegenwart aufschließt, wenn sie uns […] die Ent-
wicklungsstufen verschollener Musikpflege aufzeigt, so erweitert sie unsern Ge-
sichtskreis ebenso wie der Naturforscher, der den Fortschritt von untergeordneten
Lebewesen zu den höchsten Entwicklungsstufen der belebten Welt darstellt.25
Als nach dem Zweiten Weltkrieg das Grauen und die Vernichtung in
seinem ganzen Ausmaß offenbar wurden, die vom „Dritten Reich“ zu ver-
antworten waren, wurden wieder Stimmen laut, die „das Wunder der Musik“
beschworen, „daß sie noch da ist unzerstört und unberührt, wo so unendliches
Große und Schöne in Trümmer sank.“26 Doch sie verhallten ohne erkennba-
re Resonanz, vielmehr gewann die Kritische Theorie Theodor W. Adornos in
der deutschen Musikanschauung eine nahezu uneingeschränkte Dominanz.
Zentral war für Adorno der Wahrheitsanspruch der Kunst, und so blieb er
bei aller kulturkritischen Distanz dem „Projekt der Moderne“ in einer ganz
verzwickten Weise verhaftet. Seit einiger Zeit ist eine entschiedene Abkehr
von Adorno zu beobachten, zu seinen jüngeren Kritikern gehört Dirk von Pe-
tersdorff, der von literaturwissenschaftlicher Warte aus die ästhetische Mo-
derne analysiert und ihre Zeit, „200 Jahre deutscher Kunstreligion“, als der of-
fenen Gesellschaft feindlich gegenüberstehend anprangert. Seine Vorwürfe
treffen zentrale Prämissen des „Projekts der Moderne“. Er spricht von „ästhe-
tischer Egomanie“ (Bertold Brecht),27 von der „Nähe von utopistischen Kunst-
konzepten und politischer Gleichschaltung“ (Gottfried Benn),28 von dem eli-
tären Selbstbewusstsein und der Verachtung der „Dämokratie“ durch eine
„befugte Minderheit“, indem er Peter Rühmkorf zitiert: „Vier Wahlstimmen
25 Wilhelm Tappert, „Feinde ringsum! Krieg gegen die deutsche Musikwissenschaft,“ Neue Zeit-
schrift für Musik 81 (1914): 517f., hier 517. Der Artikel ist unter dem Namen des bekannten Berli-
ner Musikschriftstellers Wilhelm Tappert erschienen, der 1907 gestorben war. Mitte im zweiten
Weltkrieg findet sich die Formulierung von der „Höchstbegabung unseres Volkes für Musik“ bei Hans
Joachim Moser, „Von der Steuerung des deutschen Musiklebens,“ in Jahrbuch der deutschen Mu-
sik 1943 [ Jahrbuch der deutschen Musik 1943, im Auftrage der Abteilung Musik des Reichsministeriums für
Volksaufklärung und Propaganda], hrsg. Hellmuth von Hase (Leipzig/Berlin, 1943), 22-26, hier 23.
Freundlicher Hinweis von Martin Thrun.
26 Richard Benz, Beethovens geistige Weltbotschaft (Heidelberg: Carl Pfeffer Verlag, 1948), 5.
27 Dirk von Petersdorff, Verlorene Kämpfe. Essays (Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, 2001), 17.
28 Op. cit., 18.
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Musikwissenschaft“ zum Anlass genommen, alles Ausländische zu verdam-
men. Mit deutlich sozialdarwinistischer Begründung wird eine Konzentra-
tion allein auf die deutsche Musik gefordert und mit einer Apotheose über-
wölbt:
Wenn nun die Deutsche Gesellschaft für Musikforschung uns die langverschütte-
ten Quellen zu der Kunst der Gegenwart aufschließt, wenn sie uns […] die Ent-
wicklungsstufen verschollener Musikpflege aufzeigt, so erweitert sie unsern Ge-
sichtskreis ebenso wie der Naturforscher, der den Fortschritt von untergeordneten
Lebewesen zu den höchsten Entwicklungsstufen der belebten Welt darstellt.25
Als nach dem Zweiten Weltkrieg das Grauen und die Vernichtung in
seinem ganzen Ausmaß offenbar wurden, die vom „Dritten Reich“ zu ver-
antworten waren, wurden wieder Stimmen laut, die „das Wunder der Musik“
beschworen, „daß sie noch da ist unzerstört und unberührt, wo so unendliches
Große und Schöne in Trümmer sank.“26 Doch sie verhallten ohne erkennba-
re Resonanz, vielmehr gewann die Kritische Theorie Theodor W. Adornos in
der deutschen Musikanschauung eine nahezu uneingeschränkte Dominanz.
Zentral war für Adorno der Wahrheitsanspruch der Kunst, und so blieb er
bei aller kulturkritischen Distanz dem „Projekt der Moderne“ in einer ganz
verzwickten Weise verhaftet. Seit einiger Zeit ist eine entschiedene Abkehr
von Adorno zu beobachten, zu seinen jüngeren Kritikern gehört Dirk von Pe-
tersdorff, der von literaturwissenschaftlicher Warte aus die ästhetische Mo-
derne analysiert und ihre Zeit, „200 Jahre deutscher Kunstreligion“, als der of-
fenen Gesellschaft feindlich gegenüberstehend anprangert. Seine Vorwürfe
treffen zentrale Prämissen des „Projekts der Moderne“. Er spricht von „ästhe-
tischer Egomanie“ (Bertold Brecht),27 von der „Nähe von utopistischen Kunst-
konzepten und politischer Gleichschaltung“ (Gottfried Benn),28 von dem eli-
tären Selbstbewusstsein und der Verachtung der „Dämokratie“ durch eine
„befugte Minderheit“, indem er Peter Rühmkorf zitiert: „Vier Wahlstimmen
25 Wilhelm Tappert, „Feinde ringsum! Krieg gegen die deutsche Musikwissenschaft,“ Neue Zeit-
schrift für Musik 81 (1914): 517f., hier 517. Der Artikel ist unter dem Namen des bekannten Berli-
ner Musikschriftstellers Wilhelm Tappert erschienen, der 1907 gestorben war. Mitte im zweiten
Weltkrieg findet sich die Formulierung von der „Höchstbegabung unseres Volkes für Musik“ bei Hans
Joachim Moser, „Von der Steuerung des deutschen Musiklebens,“ in Jahrbuch der deutschen Mu-
sik 1943 [ Jahrbuch der deutschen Musik 1943, im Auftrage der Abteilung Musik des Reichsministeriums für
Volksaufklärung und Propaganda], hrsg. Hellmuth von Hase (Leipzig/Berlin, 1943), 22-26, hier 23.
Freundlicher Hinweis von Martin Thrun.
26 Richard Benz, Beethovens geistige Weltbotschaft (Heidelberg: Carl Pfeffer Verlag, 1948), 5.
27 Dirk von Petersdorff, Verlorene Kämpfe. Essays (Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, 2001), 17.
28 Op. cit., 18.
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