Page 139 - Vinkler, Jonatan, in Jernej Weiss. ur. 2014. Musica et Artes: ob osemdesetletnici Primoža Kureta. Koper: Založba Univerze na Primorskem.
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Musik als Maßstab
soziokultureller Evolution
Ein grundlegendes Problem
regionaler Musikkultur
und Musikgeschichtsschreibung
Helmut Loos, Leipzig
Großes Unbehagen am Mainstream der deutschen Musikwissenschaft
hat mich seit meinem Studium in den 1970er Jahren begleitet. Die
Prämissen einer „emphatischen Kunstwissenschaft“, die sich das Ur-
teil über ästhetische Wertigkeit historischer Kunstwerke vorbehält, stimmen
nicht mit den Grundsätzen der historisch-kritischen Methode überein, da sie
die Pluralität geschichtlicher Fakten nach zumeist weltanschaulichen Aspek-
ten beschneiden. Dabei geht es mehr um Sinngebung,1 nicht um nüchterne
Bestandsaufnahme als Basis eigener, freier Meinungsbildung. Ein traditions-
reicher Zweig deutscher Musikwissenschaft beschäftigt sich mit sorgfältiger
Faktenerhebung, die Musikphilologie, doch ist sie derartig auf die Großmei-
ster der deutschen Musikgeschichte eingeschworen, dass sie letztendlich doch
als Teil der emphatischen Kunstwissenschaft gesehen werden muss. Dane-
ben schrumpft eine musikalische Stadt- oder Regionalgeschichtsforschung zu
einer bedeutungslosen Marginalie. Allerdings: So zugespitzt, wie ich die Si-
tuation hier schildere, ist sie bereits Geschichte, viele personenbezogene For-
schungseinrichtungen haben sich einer breiteren Perspektive geöffnet, das
Bach-Archiv beispielsweise beschäftigt sich längst mit der gesamten Bach-Fa-
milie. Breiter angelegte Initiativen wie die 1994 gegründete „Ständige Konfe-
renz Mitteldeutsche Barockmusik e.V.“ haben allerdings schon wieder mit fi-
nanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen, da die kulturpolitische Förderung in
Deutschland gerade eine Konzentration auf die Leuchttürme Bach, Beetho-
ven und Wagner vorgenommen hat. Die „emphatische Kunstwissenschaft“
feiert also noch immer fröhliche Urständ, umso wichtiger ist es, sie auf ihre
Grundlagen und Implikationen hin kritisch zu befragen.
1 Wie sie auch an angloamerikanischen Universitäten in den „Humanities and Arts“ angeboten
wird.
musik als massstab soziokultureller evolution 137
soziokultureller Evolution
Ein grundlegendes Problem
regionaler Musikkultur
und Musikgeschichtsschreibung
Helmut Loos, Leipzig
Großes Unbehagen am Mainstream der deutschen Musikwissenschaft
hat mich seit meinem Studium in den 1970er Jahren begleitet. Die
Prämissen einer „emphatischen Kunstwissenschaft“, die sich das Ur-
teil über ästhetische Wertigkeit historischer Kunstwerke vorbehält, stimmen
nicht mit den Grundsätzen der historisch-kritischen Methode überein, da sie
die Pluralität geschichtlicher Fakten nach zumeist weltanschaulichen Aspek-
ten beschneiden. Dabei geht es mehr um Sinngebung,1 nicht um nüchterne
Bestandsaufnahme als Basis eigener, freier Meinungsbildung. Ein traditions-
reicher Zweig deutscher Musikwissenschaft beschäftigt sich mit sorgfältiger
Faktenerhebung, die Musikphilologie, doch ist sie derartig auf die Großmei-
ster der deutschen Musikgeschichte eingeschworen, dass sie letztendlich doch
als Teil der emphatischen Kunstwissenschaft gesehen werden muss. Dane-
ben schrumpft eine musikalische Stadt- oder Regionalgeschichtsforschung zu
einer bedeutungslosen Marginalie. Allerdings: So zugespitzt, wie ich die Si-
tuation hier schildere, ist sie bereits Geschichte, viele personenbezogene For-
schungseinrichtungen haben sich einer breiteren Perspektive geöffnet, das
Bach-Archiv beispielsweise beschäftigt sich längst mit der gesamten Bach-Fa-
milie. Breiter angelegte Initiativen wie die 1994 gegründete „Ständige Konfe-
renz Mitteldeutsche Barockmusik e.V.“ haben allerdings schon wieder mit fi-
nanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen, da die kulturpolitische Förderung in
Deutschland gerade eine Konzentration auf die Leuchttürme Bach, Beetho-
ven und Wagner vorgenommen hat. Die „emphatische Kunstwissenschaft“
feiert also noch immer fröhliche Urständ, umso wichtiger ist es, sie auf ihre
Grundlagen und Implikationen hin kritisch zu befragen.
1 Wie sie auch an angloamerikanischen Universitäten in den „Humanities and Arts“ angeboten
wird.
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