Page 140 - Vinkler, Jonatan, in Jernej Weiss. ur. 2014. Musica et Artes: ob osemdesetletnici Primoža Kureta. Koper: Založba Univerze na Primorskem.
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musica et artes
Die „emphatische Kunstwissenschaft“ basiert auf der Vorstellung von
der Musik als einer progressiven Kraft und ist nicht zu trennen von der voll-
ständigen Neuverortung der Musik in der bürgerlichen Gesellschaft seit dem
18. Jahrhundert. Sie ist vollständig abhängig von dem „Projekt der Moderne“
zur „Selbstvergewisserung“ und „Selbstbegründung“ des Menschen, das Jür-
gen Habermas noch 1980 als unvollendet zu retten beabsichtigte, und stand
ausgehend von der Aufklärung bei allen Varianten, die einschließlich von ver-
fallstheoretischen Geschichtsdeutungen bis hin zu ihrer dialektischen Auf-
hebung formuliert wurden, unter den Prämissen der Säkularisierung, des
Fortschrittsglaubens, der Rationalität und der Autonomie. Der Fortschritts-
glaube hat sich im Weltbild der westlichen Moderne besonders prägend aus-
gewirkt und die Musikgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert maßgeblich
geprägt. Gegenüber der Vorstellung von einer „Weltliteratur“ sank städti-
sche oder regionale Kultur zu einem provinziellen Phänomen herab, das der
Aufmerksamkeit fortschrittlicher, gebildeter, höherer Geister nicht wür-
dig erschien. Selten werden die negativen Konsequenzen dieser Einstellung
thematisiert, hier interessiert vor allem der geistige Weltkrieg der National-
musiken, der bis heute vielerorts tobt. Er bedient sich theoretischer und äs-
thetischer Konstruktionen, die ihren Geltungsanspruch aus einer „emphati-
schen Kunstwissenschaft“ ziehen.
Der sich fortschreitend enthüllende Weltgeist Friedrich Hegels hat im
deutschen Musikschrifttum deutliche Spuren hinterlassen.2 Adolf Bernhard
Marx und Franz Brendel sind zwei frühe Vertreter dieser Richtung, die das
national-liberale Bürgertum geprägt hat. Marx nennt „Fortschritt[,] Wahr-
haftigkeit und Eigenthümlichkeit“ als „Bedingungen ächten Künstlerthums“.3
Sie stehen in direktem Zusammenhang mit ihrem sozialen Umfeld:
Soll also die Kunst einen Fortschritt erleben, so kann das nicht anders als durch den
Fortschritt im Leben der Zeit und des Volks geschehn. Die Frage nach dem Stand-
punkt‘ und Fortschritte der Kunst ist eins mit der Frage nach dem Standpunkt‘ und
Fortschritte des Volks und der Zeit.4
Damit wird die Musik zum Maßstab gesellschaftlichen Fortschritts. Ähnli-
che soziale Zusammenhänge stellt Franz Brendel her, ein Vertreter der Zu-
kunftsmusik Franz Liszts und Richard Wagners, wenn er mit Bezug auf letz-
2 Vladimir Karbusicky, Wie deutsch ist das Abendland? Geschichtliches Sendungsbewußtsein im Spiegel der Mu-
sik (Hamburg: von Bockel, 1995).
3 Adolf Bernhard Marx, Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts und ihre Pflege (Leipzig: Breitkopf
und Härtel, 1855), 108.
4 Op. cit., 179f.
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Die „emphatische Kunstwissenschaft“ basiert auf der Vorstellung von
der Musik als einer progressiven Kraft und ist nicht zu trennen von der voll-
ständigen Neuverortung der Musik in der bürgerlichen Gesellschaft seit dem
18. Jahrhundert. Sie ist vollständig abhängig von dem „Projekt der Moderne“
zur „Selbstvergewisserung“ und „Selbstbegründung“ des Menschen, das Jür-
gen Habermas noch 1980 als unvollendet zu retten beabsichtigte, und stand
ausgehend von der Aufklärung bei allen Varianten, die einschließlich von ver-
fallstheoretischen Geschichtsdeutungen bis hin zu ihrer dialektischen Auf-
hebung formuliert wurden, unter den Prämissen der Säkularisierung, des
Fortschrittsglaubens, der Rationalität und der Autonomie. Der Fortschritts-
glaube hat sich im Weltbild der westlichen Moderne besonders prägend aus-
gewirkt und die Musikgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert maßgeblich
geprägt. Gegenüber der Vorstellung von einer „Weltliteratur“ sank städti-
sche oder regionale Kultur zu einem provinziellen Phänomen herab, das der
Aufmerksamkeit fortschrittlicher, gebildeter, höherer Geister nicht wür-
dig erschien. Selten werden die negativen Konsequenzen dieser Einstellung
thematisiert, hier interessiert vor allem der geistige Weltkrieg der National-
musiken, der bis heute vielerorts tobt. Er bedient sich theoretischer und äs-
thetischer Konstruktionen, die ihren Geltungsanspruch aus einer „emphati-
schen Kunstwissenschaft“ ziehen.
Der sich fortschreitend enthüllende Weltgeist Friedrich Hegels hat im
deutschen Musikschrifttum deutliche Spuren hinterlassen.2 Adolf Bernhard
Marx und Franz Brendel sind zwei frühe Vertreter dieser Richtung, die das
national-liberale Bürgertum geprägt hat. Marx nennt „Fortschritt[,] Wahr-
haftigkeit und Eigenthümlichkeit“ als „Bedingungen ächten Künstlerthums“.3
Sie stehen in direktem Zusammenhang mit ihrem sozialen Umfeld:
Soll also die Kunst einen Fortschritt erleben, so kann das nicht anders als durch den
Fortschritt im Leben der Zeit und des Volks geschehn. Die Frage nach dem Stand-
punkt‘ und Fortschritte der Kunst ist eins mit der Frage nach dem Standpunkt‘ und
Fortschritte des Volks und der Zeit.4
Damit wird die Musik zum Maßstab gesellschaftlichen Fortschritts. Ähnli-
che soziale Zusammenhänge stellt Franz Brendel her, ein Vertreter der Zu-
kunftsmusik Franz Liszts und Richard Wagners, wenn er mit Bezug auf letz-
2 Vladimir Karbusicky, Wie deutsch ist das Abendland? Geschichtliches Sendungsbewußtsein im Spiegel der Mu-
sik (Hamburg: von Bockel, 1995).
3 Adolf Bernhard Marx, Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts und ihre Pflege (Leipzig: Breitkopf
und Härtel, 1855), 108.
4 Op. cit., 179f.
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