Page 142 - Vinkler, Jonatan, in Jernej Weiss. ur. 2014. Musica et Artes: ob osemdesetletnici Primoža Kureta. Koper: Založba Univerze na Primorskem.
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musica et artes
Menschen“ aus dem Jahre 1889.9 Musik ist für ihn Teil der geistigen Entwick-
lung, „eine Steigerung der geistigen Eigenschaften der Menschheit als eines Gan-
zen […], die Entstehung von Cultur im weitestens Sinne und nach allen denk-
baren Richtungen.“10 So wie „der Urmensch niederere seelische Vermögen, vor
allem geringere Intelligenz besessen haben muss als der Culturmensch“, so habe
sich „die Empfänglichkeit des Menschen für Musik im Laufe seiner intellec-
tuellen Entwicklung gesteigert“. Von der „Eigenthümlichkeit und dem Reicht-
hum der musikalischen Formen, wie dies Hanslik [sic] in seiner berühmten
Schrift über das ‚Musikalisch-Schöne‘ in so vortrefflicher Weise dargelegt hat“,
könne nur ein Kulturmensch eine Ahnung haben, hier geht Weismann von
„verschiedenen Entwicklungsstufen der Menschenseele“ aus. Zu einem „stark
entwickelte[n] Musiksinn“ gehöre „auch eine reiche, grosse, tief erregbare Seele,
wie sie erfahrungsgemäss erst der höher entwickelte Intellect mit sich bringt.“11
Die Musik sozialdarwinistisch als Maßstab menschlicher Entwicklung zu
verstehen, ist damit von maßgeblicher Seite aus legitimiert. Wenn auch eine
Steigerung der physischen Anlagen kaum mehr zu erwarten sei, so dürfen wir
nach Weismann aufgrund unserer tradierten Kultur doch „auf einen beinahe
unbegrenzten Fortschritt der Menschheit hoffen“.12
Dieses evolutionistische Denken erfasste auch die sich als universitä-
res Fach neu formierende Musikwissenschaft. Leipzig, spätestens seit 1800
wichtiges Zentrum bürgerlicher Musikkultur, bot günstige Voraussetzun-
gen für die europaweite Verbreitung der neuen Ideen. Hatte schon die All-
gemeine musikalische Zeitung höchst erfolgreich zündende Artikel von Au-
toren wie E. T. A. Hoffmann, Friedrich Michaelis und Amadeus Wendt
veröffentlicht, so wurden Hermann Kretzschmar (1848-1924) und Hugo Rie-
mann (1849-1919) um 1900 zu wichtigen Gründungsfiguren der universitä-
ren Musikwissenschaft, unterstützt von Leipziger Kollegen wie Arnold Sche-
ring (1877-1941) und Arthur Prüfer (1860-1944). Ungeachtet der spezifischen
Ausprägungen einte die neue Zunft der Musikwissenschaft das Bewusstsein
um die deutsche Musik als gesellschaftlich bedeutsame Größe. Dieses Be-
wusstsein drückte sich in stereotypen Wendungen von der Hegemonie oder
9 August Weismann, „Gedanken über Musik bei Thieren und beim Menschen,“ in Deutsche Rund-
schau, Bd. 61 (Berlin, 1889), 50–79, hier zitiert nach ders., Gedanken über Musik bei Thieren und
beim Menschen, in Ders., Aufsätze über Vererbung und verwandte biologischen Fragen (Jena: G. Fisch-
er, 1892), 587-637. http://caliban.mpiz-koeln.mpg.de/weismann/weismann_vererbung.pdf (19. 09.
2013).
10 Op. cit., 613.
11 Op. cit., 633f.
12 Op. cit., 636.
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Menschen“ aus dem Jahre 1889.9 Musik ist für ihn Teil der geistigen Entwick-
lung, „eine Steigerung der geistigen Eigenschaften der Menschheit als eines Gan-
zen […], die Entstehung von Cultur im weitestens Sinne und nach allen denk-
baren Richtungen.“10 So wie „der Urmensch niederere seelische Vermögen, vor
allem geringere Intelligenz besessen haben muss als der Culturmensch“, so habe
sich „die Empfänglichkeit des Menschen für Musik im Laufe seiner intellec-
tuellen Entwicklung gesteigert“. Von der „Eigenthümlichkeit und dem Reicht-
hum der musikalischen Formen, wie dies Hanslik [sic] in seiner berühmten
Schrift über das ‚Musikalisch-Schöne‘ in so vortrefflicher Weise dargelegt hat“,
könne nur ein Kulturmensch eine Ahnung haben, hier geht Weismann von
„verschiedenen Entwicklungsstufen der Menschenseele“ aus. Zu einem „stark
entwickelte[n] Musiksinn“ gehöre „auch eine reiche, grosse, tief erregbare Seele,
wie sie erfahrungsgemäss erst der höher entwickelte Intellect mit sich bringt.“11
Die Musik sozialdarwinistisch als Maßstab menschlicher Entwicklung zu
verstehen, ist damit von maßgeblicher Seite aus legitimiert. Wenn auch eine
Steigerung der physischen Anlagen kaum mehr zu erwarten sei, so dürfen wir
nach Weismann aufgrund unserer tradierten Kultur doch „auf einen beinahe
unbegrenzten Fortschritt der Menschheit hoffen“.12
Dieses evolutionistische Denken erfasste auch die sich als universitä-
res Fach neu formierende Musikwissenschaft. Leipzig, spätestens seit 1800
wichtiges Zentrum bürgerlicher Musikkultur, bot günstige Voraussetzun-
gen für die europaweite Verbreitung der neuen Ideen. Hatte schon die All-
gemeine musikalische Zeitung höchst erfolgreich zündende Artikel von Au-
toren wie E. T. A. Hoffmann, Friedrich Michaelis und Amadeus Wendt
veröffentlicht, so wurden Hermann Kretzschmar (1848-1924) und Hugo Rie-
mann (1849-1919) um 1900 zu wichtigen Gründungsfiguren der universitä-
ren Musikwissenschaft, unterstützt von Leipziger Kollegen wie Arnold Sche-
ring (1877-1941) und Arthur Prüfer (1860-1944). Ungeachtet der spezifischen
Ausprägungen einte die neue Zunft der Musikwissenschaft das Bewusstsein
um die deutsche Musik als gesellschaftlich bedeutsame Größe. Dieses Be-
wusstsein drückte sich in stereotypen Wendungen von der Hegemonie oder
9 August Weismann, „Gedanken über Musik bei Thieren und beim Menschen,“ in Deutsche Rund-
schau, Bd. 61 (Berlin, 1889), 50–79, hier zitiert nach ders., Gedanken über Musik bei Thieren und
beim Menschen, in Ders., Aufsätze über Vererbung und verwandte biologischen Fragen (Jena: G. Fisch-
er, 1892), 587-637. http://caliban.mpiz-koeln.mpg.de/weismann/weismann_vererbung.pdf (19. 09.
2013).
10 Op. cit., 613.
11 Op. cit., 633f.
12 Op. cit., 636.
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