Page 148 - Vinkler, Jonatan, in Jernej Weiss. ur. 2014. Musica et Artes: ob osemdesetletnici Primoža Kureta. Koper: Založba Univerze na Primorskem.
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musica et artes

satz“ sieht Adorno den Beginn der „Evolution der neuen Musik“.40 Schönberg
bildet die zentrale Persönlichkeit dieser Entwicklung: „Ist es doch konstitu-
tiv für alle Musik Schönbergs, daß sie, obzwar enger an die materiale Evolu-
tion geknüpft als jede andere, dennoch nie als bloßer Vollzug materialer Not-
wendigkeiten verstanden werden kann, sondern daß sie ihr Material empfängt
in geschichtlicher Dialektik“.41 Denn „bei keinem anderen hat die musikalische
Evolution so vollständig alle Elemente des kompositorischen Materials, Melos
und Harmonik, Kontrapunkt und Formkonstruktion, Setzweise und Instru-
mentalklang ergriffen wie bei Schönberg.“42 In der „Evolution der neuen Musik
in der Wiener Schule“43 enthüllt sich für Adorno objektive Wahrheit, eine „ob-
jektiv stilsetzende Instanz, als welche sie in Wahrheit seit ihrer Evolution legi-
timiert war: keine esoterische Sekte mit privatem Idiom und verschworener Ge-
sinnung, sondern fortgeschrittenes Vollzugsorgan musikalischer Erkenntnis.“44
Dass dabei immer noch die alten Ideen von der Weltherrschaft der deutschen
Musik eine Rolle spielen, wenn Adorno von der „deutschen Evolution des mu-
sikalischen Materials“ spricht, die „mit dem Ideal umfassender motivisch-the-
matischer Arbeit tief in die deutsche Tradition zurückreicht“,45 muss als tra-
gisch bezeichnet werden. Aber auf diese Weise hat es Adorno geschafft, die
„Wiener Schule“ in der deutschen Musikgeschichtsschreibung als gleichbe-
rechtigte Größe neben der „Wiener Klassik“ zu etablieren.46 Allerdings be-
schränkt sich die Gleichsetzung auf den theoretischen Anspruch der „Ein-
geweihten“, im Musikleben oder im allgemeinen öffentlichen Bewusstsein
ist sie auch nicht ansatzweise gegeben. Allerdings haben die Rationalität der
Argumentation und die Begründung in scheinbar gesicherten Erkenntnis-
sen wie der Evolutionstheorie dazu geführt, dass Adornos Philosophie der
Neuen Musik zu einem einflussreichen Leitbild der deutschen Musikwissen-
schaft werden konnte. Ungerührt werden dabei Vorstellungen von der Hege-
monie der deutschen Musik und der Minderwertigkeit ausländischer Musik
mitgenommen. Adorno demonstriert dies in seinen vernichtenden „Waren-

40 „Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie,“ in GS 14, 278f.
41 Theodor W. Adorno, „Musikalische Schriften V. Zur Zwölftontechnik,“ in GS 18, 364.
42 Theodor W. Adorno, „Musikalische Schriften V. Berg und Webern,“ in GS 20/2, 782.
43 Theodor W. Adorno, „Musikalische Schriften V. Über einige Arbeiten von Anton Webern,“ in

GS 18, 674.
44 Theodor W. Adorno, „Die musikalischen Monographien. Zu Werken,“ in GS 13, 415.
45 Theodor W. Adorno, „Musikalische Schriften V. Zum Stand des Komponierens in Deutsch-

land,“ in GS 18, 134f.
46 Helmut Loos, „Zur Rezeption von „Wiener Klassik“ und „Wiener Schule“ als Schule,“ in Mozart

und Schönberg. Wiener Klassik und Wiener Schule, eds. Hartmut Krones, Christian Meyer (Wien-
Köln-Weimar: Böhlau, 2012), 17-28.

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