Page 149 - Vinkler, Jonatan, in Jernej Weiss. ur. 2014. Musica et Artes: ob osemdesetletnici Primoža Kureta. Koper: Založba Univerze na Primorskem.
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analysen“ an einem französischen (Gounod) und drei osteuropäischen Kom-
ponisten (Rachmaninoff, Dvořak, Tschaikowsky).47

Biologische Evolutionstheorien spielen bei Adorno keine Rolle, sie gehö-
ren aber bis 1945 untrennbar zum Fortschrittsglauben des „Projekts der Mo-
derne“ dazu. Vernichtungskrieg und Völkermord des Dritten Reiches waren
mitgetragen von Vorstellungen des „survival of the fittest“, des Herrschafts-
und Überlebensanspruchs der am höchsten entwickelten Rasse, die ihre Stel-
lung kulturell, durch die Hegemonie der deutschen Musik scheinbar bewie-
sen habe. Bedeutende Komponisten galten als Originalgenies, als Vorbilder
des „Herrenmenschen“ mit seiner vornehmen „Herrenmoral“ gegenüber der
verächtlichen „Sklavenmoral“ (Nietzsche). Das giftige Gebräu, das die Natio-
nalsozialisten aus derartigen Gedanken deutscher Geistesgeschichte wahllos
zusammenmischten, verfehlte seine Wirkung auch aufgrund seiner schein-
bar wissenschaftlichen Grundlagen nicht. Die Apologie des Genies als „Füh-
rer der Menschheit“ (Johann Georg Sulzer, 1757) und totalitäre Vorstellungen
vom Gesamtkunstwerk, wie sie über 200 Jahre deutscher Kunstreligion zele-
briert und entwickelt hatten, ebneten Adolf Hitler und möglicherweise auch
anderen europäischen Diktatoren des 20. Jahrhunderts den Weg. Die Allge-
meine Erklärung der Menschenrechte, wie sie in der Charta der Vereinten
Nationen 1948 formuliert worden ist, war jedenfalls eine Reaktion auf Vor-
stellungen von der unterschiedlichen Wertigkeit menschlicher Existenz, sei
es aufgrund von Herkunft oder aufgrund von Bildung, und eine klare Absa-
ge an evolutionäre Wertvorstellungen.

Umso erstaunlicher ist die Hartnäckigkeit, mit der das „Projekt der Mo-
derne“ bis in jüngste Zeit unreflektiert tradiert wird. Kritiker wie Dirk von
Petersdorff sind selten und in der öffentlichen Wahrnehmung kaum vertre-
ten. In der Musikwissenschaft wirkt sich das evolutionäre Denken bis heu-
te ungestört aus (eine jüngere Generation hat sich teilweise stillschweigend
davon verabschiedet, meidet aber die offene Auseinandersetzung). Nur zö-
gerlich und partiell löst sich das Fach von seiner Fixierung auf die sogenann-
te E-Musik und die Avantgarde, bedient damit weiter den Anspruch des Bil-
dungsbürgertums auf gesellschaftliche Führung in kunstreligiösem Sinne.
Handelt es sich dabei um einen gesellschaftspolitisch hochbrisanten Macht-
anspruch (Deutungshoheit), so lässt sich in europäischer Dimension die Fort-
führung eines geistigen Weltkriegs der Nationalstaaten erkennen. Die Kon-
struktion von Nationalmusik und ihre wissenschaftliche Begründung gehen

47 Theodor W. Adorno, „Musikalische Schriften I-III. Musikalische Warenanalysen,“ in GS 16, 284-
296.

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